Kapitel 1
Ich bin Lisy und ich war damals fünf
Jahre alt. Mein Vater hat eine neue Arbeit in Köln gefunden und wir
mussten umziehen. Das bedeutete für mich, dass ich alle meine
Freunde verlieren würde. Meine ältere Schwester Melanie musste
sogar ihren Freund in Saarlouis zurücklassen. Sie wollte in Zukunft
eine Fernbeziehung mit ihm führen. Das bedeutete wohl, dass sie mit
Sebastian nur noch übers Telefon, Internet und Briefe Kontakt haben
würde. Diese Beziehung war doch zum Scheitern verurteilt. Es würde
sowieso nicht funktionieren, aber für Melanie war das die letzte
Hoffnung, ihren Freund nicht ganz zu verlieren. Freundschaft war
schon kompliziert. Wie schwer musste Liebe wohl sein? Irgendwann
würde ich es am eigenen Leibe erfahren. Ich hatte zwar mit vielen
Jungs gespielt, aber es war natürlich keine Liebe im Spiel, nur
Sandkastenfreundschaften.
Nun saßen wir im Zug und fuhren nach
Köln. Köln war ja bekanntlich eine große Stadt, nicht vergleichbar
mit Saarlouis. Ich würde bestimmt viele neue Freunde finden. Zum
Glück war ich sehr freundlich, aufgeschlossen und höflich und
schloss immer sehr schnell Freundschaften. Vielleicht würde es mir
in Köln ja sogar gefallen. Papa würde mehr Geld verdienen und ich
würde mehr Spielzeug bekommen. Möglicherweise würde er mir sogar
diese teure Puppe mit glänzenden, austauschbaren Haaren, vielen
Perücken, einem Schminke-Koffer, einem Kleiderschrank, 100
Ballkleidern, 100 Paar Schuhen, zwei kleinen Kindern, einem
kuscheligen Teddybär, austauschbaren Kontaktlinsen und vielem
sonstigen Zubehör schenken. Ich träumte schon so lange von dieser
Puppe. Sie hieß Mary und ich würde sie einfach May nennen. In Köln
würden sich bestimmt viele Dinge verändern. Wir würden in ein
großes Eigenhaus ziehen. Früher haben wir in einer kleinen
Mietwohnung gewohnt. Ich würde in Köln endlich ein Einzelzimmer
haben. Es ist echt nervig gewesen, mir ein Zimmer mit Melanie teilen
zu müssen. Immer, wenn ihr Freund zu Besuch war, musste ich mich
irgendwie in Luft auflösen. Ich musste entweder spazieren gehen oder
in einem anderen Zimmer untertauchen. Das war ja so ätzend! Außerdem
hat Melanie ständig laute Musik gehört, wenn ich in Ruhe spielen
oder schlafen wollte. Das war einfach unerträglich. Meine ältere
Schwester hatte nie Rücksicht auf mich genommen. Sie hat immer
einfach das getan, was ihr gefallen hat. Fitnessübungen, tanzen,
Musik hören, fern schauen und Horrorfilme schauen. Ich konnte zwar
nichts sehen, aber ich bekam schon Gänsehaut, wenn ich die
unheimlichen Geräusche hörte. Manchmal konnte ich wegen diesen
Geräuschen gar nicht einschlafen. Melanie schaute sogar nachts
Horrorfilme. Das war echt schrecklich. Deswegen freute ich mich sehr
darüber, endlich ein Einzelzimmer zu bekommen. Außerdem würde in
dem großen Haus eine große Badewanne sein, in der man sehr gut
spielen könnte. Ehrlich gesagt freute ich mich schon sehr auf Köln.
Ich würde meinen Freunden Briefe schreiben und mein neues Leben
genießen. Wäre es nicht cool, wenn ich alle Spielzeuge haben
könnte, die ich mir wünschen würde? Ich würde ja so gerne eine
kleine Prinzessin sein. Vielleicht würde mein Traum in Köln in
Erfüllung gehen...
Plötzlich wurde ich unsanft aus meinen
Träumen gerissen. Melanie zog mich an den Haaren.
„Lisy, wir müssen jetzt
aussteigen.“, flüsterte sie. Wir sind also in Köln angekommen.
Diese Stadt sah irgendwie ganz anders aus. Überall waren große
Häuser. Ich war erstaunt. Natürlich stieg ich sofort mit meiner
Familie aus. Wir mussten noch etwas laufen, bis wir endlich unser
neues Haus erreichten.
Es sah von außen wirklich sehr schön
aus. Wenn es von innen genauso schön aussehen würde, würde ich mit
Sicherheit alle meine Freunde vergessen. Köln war einfach wunderbar.
Wieso sollte ich irgendjemanden oder irgendetwas vermissen?
Möglicherweise würde mir Papas neuer Job ein Leben im Luxus
ermöglichen können. Oh ja, ich würde im Spielzeug baden!
Da sind wir auch schon hereingegangen.
Das Haus sah wirklich schön aus. Es war renoviert und wirkte sehr
nobel – wie ein 5-Sterne-Hotel. Ich konnte irgendwie gar nicht
glauben, dass ich in Zukunft in diesem Haus wohnen würde. Die
Mietwohnung in Saarlouis ist im Vergleich zu diesem Haus ein
Müllcontainer gewesen – keine Frage. Ich war einfach begeistert.
Mit offenem Mund betrachtete ich mein neues Haus. Ich würde ganz
viele Freunde einladen können, die mich um dieses Haus beneiden
würden oder hatten alle Menschen in Köln so eine tolle Unterkunft?
Nein, das konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Nun gehörte ich
wohl endlich zu der reichen Schicht! Natürlich könnte ich das ganze
Haus beschreiben, aber ich würde meine Seiten nicht so gerne für
unnötige Beschreibungen verschwenden. Ich höre mich ja so an, als
wäre ich eine arme Kirchenmaus. Das muss wohl an meiner alten
Gewohnheit liegen. Früher hat das Motto immer: „Sparen, sparen,
sparen“ gelautet. In Köln war alles anders. Trotzdem konnte ich
die alten Muster nicht so schnell ablegen. Meine Eltern zeigten mir
mein Zimmer. Es war wunderschön. Es war sehr groß. Wenn mein
Spielzeug erst in dieses Zimmer einziehen würde, dann würde ich
mich wie eine kleine Prinzessin fühlen...
„Wir packen jetzt unsere Koffer aus.
Du kannst ja in der Zwischenzeit hier bleiben.“, meinte mein Vater.
Nicht schon wieder! Ich wurde immer wie ein kleines Kind behandelt.
Alle durften ihre Koffer auspacken außer mir! Es war ja fast so, als
würde man Talent dazu brauchen, den Koffer auszupacken. Lächerlich!
Ich sagte aber gar nichts dazu, da ich nicht wirklich scharf darauf
war, meinen Koffer auszupacken. Ich würde lieber in meinem neuen
Zimmer bleiben. Es war sehr schön eingerichtet und es gab sogar
schon Möbel. Ich legte mich in mein neues, kuscheliges Kinderbett.
Während alle total gestresst wirkten, genoss ich es einfach, in
meinem Bett zu liegen. Ich hatte eine hervorragende Sicht aus dem
Fenster. Nun, ich würde mich bestimmt sehr schnell in der neuen
Stadt einleben. Meine Eltern packten ihre Koffer aus, während ich
einfach aus dem Fenster schaute. Das war echt schön. Das Haus war
sehr groß und mein Zimmer war oben. Deswegen konnte man die ganze
Stadt sehen, wenn man aus dem Fenster schaute. Cool. Total
abgefahren! Mir fehlten einfach die Worte.
Plötzlich hörte ich merkwürdige
Geräusche. Stimmen, die ich nicht kannte. Meine Familie hatte eine
ganz andere Stimme. Ich war sehr neugierig und folgte den Geräuschen.
Die Geräusche führten mich in den Keller. Es war nur seltsam, dass
niemand im Keller war. Der Keller war leer, aber ich konnte Geräusche
und Stimmen wahrnehmen. Ich drehte mich um. Da sah ich eine schwarze
Tür. Vielleicht kamen diese Stimmen von dort. Ich wollte die Tür
öffnen, aber ich konnte nicht.
„Du bist noch zu klein. Du darfst
diese Tür nicht betreten.“, hörte ich plötzlich. Das war ja wohl
die Höhe! Es hieß ständig, dass ich zu klein sein würde. Ich war
für alles zu klein, sogar für solche spannenden Dinge! Wer wohnte
wohl hinter der Tür? Vielleicht könnten meine Eltern das ja
herauszufinden. Sie waren ja bestimmt nicht zu klein. Ich rief meine
Eltern. Sie kamen sofort her.
„Was ist los? Was hast du im Keller
verloren?“, wollte mein Vater von mir wissen.
Ich zuckte nur mit den Achseln: „Nun,
ich habe Stimmen gehört und hier ist eine Tür, die ich nicht öffnen
kann.“
„Welche Tür?“, wunderte sich mein
Vater. Machte er etwa Witze? Die Tür stand doch direkt vor seiner
Nase. Ich zeigte mit dem Zeigefinger auf die Tür.
„Tut mir leid, ich sehe hier keine
Tür.“, meinte mein Vater. War er etwa blind? Ich schaute
hoffnungsvoll meine Mutter an.
„Ich sehe leider auch keine Tür,
mein Schatz. Ich kann nur die kahle, graue, rissige Wand sehen.“,
sprach meine Mutter. Sahen sie die Tür wirklich nicht oder wollten
sie mich veräppeln? Ich rief Melanie. Sie kam sofort her und
versicherte mir, dass da keine Tür stehen würde. Das konnte doch
nicht sein! Wieso konnte keiner außer mir diese Tür sehen? Was war
bloß hinter dieser Tür? Irgendwann würde ich alt genug sein, um
diese Tür zu betreten...
Ich musste wieder in mein Zimmer gehen.
Meine Familie hatte noch nicht alles ausgepackt. Ich gehorchte meinen
Eltern und ging wieder in mein Zimmer. Ich setzte mich auf einen
Stuhl und dachte nach. Was hatte es nur mit dieser Tür auf sich? Ich
habe sie mir doch nicht eingebildet! Ich konnte immer noch diese
seltsamen Stimmen hören. Niemand außer mir hörte diese Geräusche.
Das war echt merkwürdig. Welche Geheimnisse versteckten sich hinter
der verschlossenen Tür? Ich würde am liebsten sofort erwachsen
werden, nur um endlich diese Tür öffnen zu dürfen. Ja, ich wäre
sogar bereit dazu, alle meine Spielzeuge wegzuwerfen. Vielleicht
waren hinter der Tür ja Spielzeuge versteckt, Berge von Spielzeugen
und ich durfte nicht herein. Unsinn! Ich träumte ja schon wieder
viel zu viel. Wenn dort Spielzeug versteckt wäre, wäre mir der
Zutritt bestimmt nicht verwehrt gewesen. Viellicht waren dort nur
langweilige Bücher. Irgendwann würde ich das erfahren. Ich hasste
es, ständig warten zu müssen. Irgendwie durfte ich gar nichts
machen. Meine ältere Schwester durfte alles tun und ich durfte gar
nichts! Ich hasste es, ständig wie ein kleines Kind behandelt zu
werden. In Köln würde sich wohl viel ändern, aber ich würde immer
noch das kleine Kind bleiben. Na toll! Niemand nahm mich ernst. Nun
dachte meine Familie bestimmt, dass ich nur fantasieren würde. Das
machten schließlich viele Kinder in meinem Alter. Die Tür war aber
da. Im Keller. Ich habe sie doch mit meinen eigenen Augen gesehen...